Die allererste Regel, die Hanno und ich je aufgestellt hatten, war, immer ans Telefon zu gehen, wenn der andere anrief. Immer. Es war eine Regel, geboren aus Blut und Verzweiflung in den regennassen Straßen von Hamburg, als wir nichts weiter waren als Kinder mit leeren Mägen und Herzen voller Ehrgeiz. Als also das Handy meines Mannes am Jahrestag des Todes unseres Sohnes zum fünften Mal auf die Mailbox umsprang, wusste ich, dass er nicht nur beschäftigt war. Er war bei jemand anderem.
Jedes Jahr an diesem Tag schotteten wir uns von der Welt ab. Keine Deals, keine Meetings, keine Anrufe. Wir fuhren die zwei Stunden nach Norden zur Hütte an der Ostsee, die wir von unserer ersten sauberen Million gekauft hatten. Es war unser Heiligtum, der stille, geweihte Ort, an dem wir uns erlaubten, um den Sohn zu trauern, den wir nie im Arm halten durften. Wir zündeten eine einzelne weiße Kerze an, saßen auf der abgenutzten Holzveranda und sprachen kein Wort, bis die Sonne unter dem Horizont versank und das Wasser in Orange- und Violetttönen malte.
Es war unser Ritual. Ein stilles Versprechen, dass wir selbst in der erstickenden Stille unseres Verlustes niemals allein waren. Wir hatten einander.
An diesem Morgen wachte ich allein in unserem riesigen Bett auf, die Laken auf seiner Seite waren kalt und unberührt. Ein eisiger Knoten bildete sich in meinem Magen. Als bis Mittag keine Nachricht kam, begann das Eis zu splittern. Um drei Uhr nachmittags fühlte es sich an, als würde mir ein Eisblock die Luft abdrücken.
Ich erinnerte mich, wie er mich vor Jahren vor der Klinge eines Rivalen geschützt hatte. Der Stahl schnitt tief in seinen Rücken, eine Wunde, die eine dauerhafte, gezackte Narbe hinterlassen würde. Er war auf mich zusammengebrochen, sein Blut warm auf meiner Wange, und hatte geflüstert: „Ich bin hier, Eva. Ich bin immer hier.“ Und das war er gewesen. Zwanzig Jahre lang war Hanno Voss die einzige Konstante in einem Leben, das von Chaos geprägt war. Er war mein Partner, mein Stratege, der Architekt des Imperiums, das wir aus dem Nichts aufgebaut hatten.
Jetzt war er einfach … weg.
„Lars“, sagte ich in mein Handy, meine Stimme gefährlich ruhig. „Ortet Hannos Wagen. Sofort.“
Es gab kein Zögern. „Wird gemacht, Chefin.“
Weniger als eine Minute später kam das GPS-Signal. Mein Blut gefror in meinen Adern. Er war bei der Hütte. Er war ohne mich dorthin gefahren.
Die Fahrt war ein verschwommener Film aus kahlen Winterbäumen und grauem Himmel. Meine Männer, ein stiller Konvoi aus schwarzen Limousinen, flankierten meinen Wagen. Sie wussten es, ohne zu fragen. Sie wussten, welcher Tag heute war, und sie kannten den Blick in meinen Augen. Es war derselbe Blick, den ich vor einer feindlichen Übernahme hatte, bevor ich einen Mann brach, der uns verraten hatte. Es war der Blick einer Königin, die sich auf den Krieg vorbereitet.
Wir bogen in die lange Schotterauffahrt ein, die Reifen knirschten wie Knochen. Ich sah seine schwarze Limousine neben der Veranda geparkt. Aber da war noch ein anderes Auto, ein billiger, alter Opel Corsa, der danebenstand. Er wirkte neben der rustikalen Eleganz der Hütte so fehl am Platz, dass es sich wie eine bewusste Beleidigung anfühlte.
Ich stieg aus und gab meinen Männern ein Zeichen, zu warten. Die Luft war eiskalt und biss auf meiner Haut. Durch das große Panoramafenster konnte ich ein Feuer im Kamin lodern sehen. Und dann sah ich sie.
Hanno stand am Kamin, den Rücken zu mir. Vor ihm stand eine junge Frau, kaum älter als ein Teenager. Sie war zierlich, mit dunklem Haar, das ihr in einer unordentlichen Kaskade über den Rücken fiel. Sie trug eines seiner Hemden, den weichen, grauen Kaschmirpullover, den ich ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er hing an ihrer schmalen Gestalt herab, die Ärmel verschluckten ihre Hände.
Er streckte die Hand aus und strich ihr eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr, seine Berührung war unmöglich sanft. Genauso hatte er mich früher berührt, wenn er dachte, ich würde schlafen. Eine zärtliche, besitzergreifende Geste, die mein Herz immer vor Liebe hatte schmerzen lassen. Ihn das bei jemand anderem tun zu sehen, zerriss mir das Herz.
Sie kicherte, ein leichtes, luftiges Geräusch, das in meinen Ohren schmerzte. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
Die Welt geriet ins Wanken. Die Luft in meinen Lungen wurde zu Asche. Das war nicht nur ein Verrat. Das war eine Schändung. Er hatte sie hierhergebracht. An unseren Ort. An den Ort unseres Sohnes.
Reine, blendende Wut überkam mich. Ich ging an der Haustür vorbei, um die kleine Gedenkstätte aus Stein herum, die wir am Wasser errichtet hatten. Es war ein einfacher, flacher Stein, auf dem ein einziger Name eingraviert war: Leo. Unser Leo. Daneben stand ein kleines, handgeschnitztes Holzschaukelpferd, an dem Hanno einen Monat lang gearbeitet hatte, während ich schwanger war. Er hatte gesagt, jeder König brauche ein Ross.
Ich sah das kleine Pferd an, seine gemalten Augen starrten ausdruckslos auf das graue Wasser. Dann blickte ich zurück zum Fenster, zu meinem Mann, der eine andere Frau in der Wärme unseres Heims küsste.
Mein Fuß schnellte vor. Ich trat mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, gegen das Holzpferd. Es zersplitterte auf dem gefrorenen Boden, das Holz knackte wie ein brechender Knochen. Der Kopf brach sauber ab und rollte vor meine Füße.
Das Geräusch war laut genug, um gehört zu werden. Die Haustür der Hütte flog auf. Hanno stand da, sein Gesicht eine Maske des Schocks, die sich schnell in etwas Kaltes und Berechnendes verhärtete. Das Mädchen, Clara, spähte hinter ihm hervor, ihre Augen weit aufgerissen in einer Mischung aus Angst und Trotz. Der Duft ihres billigen, blumigen Parfums wehte auf der warmen Luft nach draußen, eine aufdringliche Süße, die mir Übelkeit verursachte.
Meine Männer waren jetzt aus ihren Autos gestiegen, die Hände an ihren Waffen, und bildeten eine stille, bedrohliche Mauer hinter mir.
Hannos Blick wanderte von meinem Gesicht zu meinen Männern und dann hinunter zu den zerbrochenen Teilen des Schaukelpferdes. Für einen Augenblick zuckte etwas über sein Gesicht – Schmerz vielleicht? – bevor es wieder verschwand.
„Eva“, sagte er mit gleichmäßiger Stimme. „Was machst du hier?“
„Ich bin wegen des Jahrestages unseres Sohnes gekommen“, sagte ich, meine eigene Stimme war ein tiefes, gefährliches Grollen. Ich deutete mit dem Kinn auf das Mädchen, das sich hinter ihm duckte. „Wen hast du mitgebracht?“
Das Mädchen, Clara, krallte sich an seinem Arm fest. Sie sah so jung aus, so zerbrechlich. Sie sah aus wie ich früher, bevor die Straße mir jede Weichheit ausgetrieben hatte.
Hanno schob sie sanft weiter hinter sich, eine schützende Geste, die die Qual in meiner Brust unerträglich machte. Das hatte er früher für mich getan. Er war früher mein Schild gewesen.
„Es ist nicht das, wonach es aussieht“, versuchte er es, die älteste, erbärmlichste Ausrede der Welt.
„Ist es das nicht?“ Ich trat einen Schritt vor. „Du hast deine Hure an den Ort gebracht, an dem wir um unser Kind trauern. Du lässt sie deinen Pullover in dem Haus tragen, das wir gebaut haben. Sag mir, Hanno, welchen Teil davon verstehe ich falsch?“
Er zuckte nicht zusammen. Er beobachtete mich nur, sein Blick war fest. Er war immer der Stratege, derjenige, der zehn Züge voraussehen konnte. Aber diesen hier hatte er nicht gesehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich auftauchen würde.
„Ihr Name ist Clara“, sagte er, als ob das eine Rolle spielte.
„Mir ist egal, wie sie heißt“, spie ich aus. „Mir ist wichtig, dass sie hier ist. In unserem Haus. An diesem Tag.“ Ich machte einen weiteren Schritt, mein Blick auf ihn gerichtet. „Du hast zehn Sekunden, um sie aus meinem Blickfeld zu schaffen. Dann werden du und ich reden.“
Er sah Clara an, sein Gesichtsausdruck wurde auf eine Weise weich, die das letzte verbliebene Stück meines Herzens zertrümmerte. Er murmelte ihr etwas zu, zu leise, als dass ich es hören konnte, und sah dann wieder zu mir.
„Nein“, sagte er mit tonloser Stimme. „Sie bleibt.“
Meine Welt geriet nicht nur ins Wanken. Sie hörte auf, sich zu drehen.
Er hatte sie gewählt. Hier. Jetzt. Vor meinen Männern. Vor dem Geist unseres Sohnes.
Ich sah ihn an, sah ihn zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich an. Den Mann mit der Narbe auf dem Rücken, den Mann, der einst Brot für mich gestohlen hatte, weil ich hungerte, den Mann, der mich drei Tage lang ununterbrochen gehalten hatte, nachdem wir unser Baby verloren hatten. Ich erkannte ihn nicht mehr.
„Gut“, sagte ich, das einzige Wort hing in der gefrorenen Luft. Ich wandte mich an meine Männer. Meine Stimme war klar und fest, die Stimme einer Königin, die einen Befehl erteilt.
„Holt sie euch.“