Rylies Miene zuckte, als sie auf das ruinierte Mittel hinunterblickte, und ein Hauch von Enttäuschung flackerte über ihr Gesicht. „Ich sage dir doch die ganze Zeit, Nicolas, in diesem Mittel ist nichts Tödliches. Es enthält eine Zutat, die das alte Blut reinigt. Du brauchst sie, wenn du jemals genesen willst“, sagte Rylie. Als das Mittel in den Teppich sickerte, verzog sie innerlich das Gesicht. Nur sie wusste, wie viel Mühe und Geld sie in die Suche nach dem richtigen Heilmittel für ihren ältesten Bruder gesteckt hatte.
Stacey Kirk, die adoptierte Tochter der Familie Kirk, stand an Nicolas' Seite und hielt Arme schützend um das medizinische Buch geschlungen, das sie immer bei sich trug. Sie hob die Stimme, während ihr die Tränen in die Augen traten. „Bitte, Rylie, hör auf, Ausreden zu suchen. Leland hat dein Kräutergebräu testen lassen, und die Ergebnisse waren gefährlich. Es ist voller Gifte!“
Kalte Skepsis zog über Rylies Gesicht, als sie Staceys Blick begegnete. „Du völlige Dummheit“, sagte Rylie kalt, „es gibt kein Medikament auf dieser Welt, das völlig harmlos ist, besonders nicht gegen das, woran Nicolas leidet. Der einzige Weg, dagegen anzukämpfen, ist eine starke Dosis. Nichts Sanftes würde bei ihm wirken.“
Stacey hielt die Tränen kaum zurück, ihre Stimme bebte, als sie Rylie anflehte: „Er spuckt uns gerade Blut entgegen, und du bestehst immer noch darauf, dass das der einzige Weg ist? Wir sind doch nur Medizinstudentinnen, Rylie, keine Wundertäter. Setz deinen Stolz nicht über Nicolas' Leben.“
Wackelig trat Stacey einen Schritt auf Rylie zu und sprach schwer vor Emotion weiter: „Ich habe einen bekannten Spezialisten gefunden. Er hat schon ein Rezept geschrieben, das Nicolas vielleicht retten kann. Gib zu, dass du falsch lagst, und lass uns es versuchen. Bitte.“
Nicolas krümmte sich, hämmerte Blut hervor und fixierte Rylie mit einem Blick, der vor Empörung glühte. „Es reichte nicht, dass du mir dieses mysteriöse Mittel eingeflößt hast, jetzt greifst du auch noch Stacey an? Hättest du auch nur einen Funken ihres Mitgefühls, stünde es nicht so weit!“, fauchte er, „entschuldige dich jetzt bei ihr!“
Rylie straffte die Schultern und sah Nicolas unverwandt an. „Alles, was ich je wollte, war dir zu helfen. Ich habe nichts getan, was eine Entschuldigung rechtfertigt. Ich schulde ihr nichts.“
Verzweiflung verzerrte Nicolas' Züge, als er sich aufraffte und in blinder Wut eine Peitsche von der Wand riss. „Das reicht! Du treibst mich ins frühzeitige Grab! Warum kannst du nie zuhören?“, schrie er, „raus! Ich will dich nicht hier haben!“
Bevor die Peitsche zuschlagen konnte, wich Rylie geschmeidig zur Seite und blieb unerschrocken. Kaum hallten gemessene Schritte von der oberen Treppe her, landete ein abgenutzter Rucksack zu ihren Füßen.
Leland Kirk, ihr zweiter älterer Bruder, stand am Fuß der Treppe. Sein Ton durchtrennte die Luft: „Reden wir Klartext. Du bist nur eine Außenseiterin und Stacey ist doch unser wahres Geschwisterkind. Wir haben dieses Geheimnis zu deinem Wohl gehütet, nur in der Hoffnung, dass du ihr nicht nachtragen würdest. Aber heute sehen wir, wie grausam du sein kannst. Wenn du dich weigern solltest, deine Fehler einzugestehen, pack deine Sachen. Wir werden Stacey als unsere einzige Schwester bekanntgeben. Dein Vermögen gehört zu deinem Namen, du musst zu deiner leiblichen Familie zurück und so leben wie sie.“
Eine solche Drohung beeindruckte Rylie nicht. Jahre im Haus der Kirks hatten ihre Geduld aufgebraucht. Doch die Enthüllung, dass sie kein Blut mit ihnen teilte, fühlte sich beinahe wie ein Segen an. Ihre Brust wirkte befreit, leichter als seit Jahren. Es gab keinen Grund mehr, ihr Wissen oder ihr Talent an ein Haus zu verschwenden, das sie niemals geschätzt hatte.
Der Gedanke erschien ihr merkwürdig und sie hatte sich immer gefragt, warum sie so herausstach unter Geschwistern, die nie an sie heranreichten.
„Das passt mir bestens.“ In Rylies Stimme lag nicht der geringste Hauch von Bedauern. Mit flinken Fingern griff sie nach dem Rucksack, fischte ein Bonbon aus der Schale und ließ es sich auf der Zunge zergehen, während sie zur Tür schritt.
Im Flur zurückgeblieben, konnte Stacey ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken. Fünf Jahre voller Intrigen hatten sich endlich ausgezahlt. Mit Rylies Weggang würde sie zur Lieblingstochter der Familie Kirk werden, von ihren Brüdern bewundert und verwöhnt.
Doch sie konnte einer letzten Darbietung nicht widerstehen. Sie eilte Rylie nach, als ihre Stimme durch den Raum ertönte: „Rylie! Geh nicht so! Du wirst hier immer ein Zuhause haben! Bitte, lass mich nicht wie die Böse dastehen. Ich flehe dich an!“
Nicolas fiel ihr scharf ins Wort: „Genug, Stacey! Lass sie gehen. Ein Herz so kalt wie ihres gehört zu ihrer eigenen verarmten Familie. Sie hat dieses Zuhause nie verdient.“
Ein kaltes Lachen entwich Rylie, als sie es hörte. War wirklich jeder in der Familie Kirk so leicht zu täuschen? Glaubten sie allen Ernstes, es sei bloßer Zufall gewesen, dass Nicolas wieder gesund wurde, sein Bett verließ und laufen konnte? Ohne ihre Hände und ihre Kräutermittel würden sie bald merken, wie weit Glück allein ihn bringen konnte.
Sie zog die Kapuze über den Kopf, ließ den Wind einzelne Haarsträhnen über ihre leuchtenden Lippen wehen, und in ihren Augen blitzte Verachtung.
...
Weit entfernt, in der pulsierenden Hauptstadt Kouhron, ragte das imposante Owen-Anwesen als Symbol von Macht und Reichtum empor.
In der prunkvollen Halle stieß Kendrick Owen seinen verzierten Stock gegen den Marmorboden. „Ihr habt mir versprochen, dass sie gefunden wäre. Warum ist sie noch immer nicht hier?“
Um ihn versammelt standen seine drei Enkel, jeder von ihnen eine respektable Persönlichkeit, deren Namen so viel Gewicht hatten, dass selbst höchste Regierungsbeamte ihnen Ehre zollten.
Doch trotz ihres Ansehens warf der Schatten ihrer verschollenen jüngsten Schwester ein trübes Licht auf ihr Selbstvertrauen, während ihre Gesichter von tiefer Sorge gezeichnet waren.
„Unsere Suche stockte in Crolens. Dem letzten Bericht zufolge lebte sie einige Jahre in einem Bergdorf, doch nach ihrer Verschleppung verlor sich jede Spur.“
Qual zeichnete Kendricks Züge. „Seit achtzehn Jahren ist dieses Kind verschwunden. Man kann sich kaum ausmalen, was sie in so einem Ort durchgemacht hat.“
„Großvater, es gibt Fortschritte. Einer der Entführer ist vorgetreten und hat ausgesagt, dass sie später an eine reiche Frau in Crolens verkauft wurde. Wir brauchen nur noch etwas Zeit, ihre Entdeckung ist greifbar nah.“
Erleichterung glättete Kendricks Gesicht. Kein Anflug von Ungeduld blieb, als er sich vom Stuhl erhob, während volle Hoffnung in seinem Blick funkelte. „Dann dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich komme mit euch. Wir werden gemeinsam suchen.“