Nur wenige Tage später brachte er seine Verlobte, Chloe, mit nach Hause.
Der Mann, der versprochen hatte, auf mich zu warten, bis ich erwachsen bin, der mich seinen hellsten Stern nannte, war verschwunden. Meine zehn Jahre verzweifelter, brennender Liebe hatten nur mich selbst verbrannt.
Der Mensch, der mich eigentlich beschützen sollte, war zu dem geworden, der mich am tiefsten verletzte.
Ich blickte auf den Zulassungsbescheid der NYU in meiner Hand. Ich musste hier weg. Ich musste ihn aus meinem Herzen reißen, egal, wie sehr es schmerzte.
Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer meines Vaters.
„Papa“, sagte ich mit heiserer Stimme, „ich habe mich entschieden. Ich will zu dir nach New York kommen.“
Kapitel 1
Der achtzehnte Tag, an dem ich Elias Wagner aufgab, begann damit, dass Ava das Foto auf dem Sperrbildschirm ihres Handys löschte.
Es war eine heimliche Aufnahme, die sie unbemerkt gemacht hatte.
Elias saß auf dem Sofa, getaucht in das Licht der Nachmittagssonne, eine Ausgabe der *Capital* auf seinen Knien. Er blickte zu ihr, ein leises, kaum wahrnehmbares Lächeln auf den Lippen.
Ganze zehn Jahre lang, von ihrem achten bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr, war dieser Mann die Sonne in ihrer Welt gewesen.
Ihre Freude, ihre Wut, ihre Trauer, ihre ganze Welt drehte sich nur um ihn.
Doch jetzt wollte sie diese Sonne mit ihren eigenen Händen auslöschen.
Der Bildschirm wurde schwarz.
Ein klares, kahles Schwarz, das nichts zurückließ.
Avas Finger zitterten leicht, als sie das Handy weglegte und das Glas Milch auf dem Tisch nahm. Es war bereits kalt.
Sie trank es in einem Zug aus. Die kalte Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab, konnte aber das Brennen in ihrer Brust nicht unterdrücken.
Sie nahm ihr Handy wieder zur Hand und wählte eine Nummer, die sie schon lange nicht mehr kontaktiert hatte.
Die Verbindung kam schnell zustande. Eine sanfte Männerstimme meldete sich.
„Ava?“
„Papa“, krächzte sie, ihre Stimme war ein wenig rau. „Ich habe meine Zusage bekommen. Von der NYU.“
Ihr Vater war für einen Moment still, dann füllte sich seine Stimme mit unverhohlener Freude. „Das ist wundervoll! Ava, herzlichen Glückwunsch. Kunstgeschichte, richtig? Das Fach, von dem du immer geträumt hast.“
„Ja.“
„Also, du hast dich entschieden? Du kommst nach New York?“
„Ich habe mich entschieden“, sagte Ava und umklammerte das Telefon fester. „Ich will bei dir sein.“
Sie wollte diesem Ort entfliehen. Sie wollte Elias Wagner entfliehen.
Ihr Vater schien die Emotion in ihrer Stimme zu spüren. Er seufzte leise. „Ist es wegen Elias? Hat er dir wieder das Leben schwer gemacht?“
„Nein“, log Ava und zwang sich zu einem entspannten Ton. „Er wird sich verloben. Ich kann nicht einfach weiter als sein Mündel in seinem Haus leben, nicht jetzt. Das gehört sich einfach nicht. Außerdem bin ich jetzt erwachsen. Es ist Zeit, dass ich lerne, auf eigenen Beinen zu stehen.“
Eine drückende Stille folgte.
Nach einer langen Weile drang die schmerzerfüllte Stimme ihres Vaters durch den Hörer. „Meine arme Ava. Es war all die Jahre schwer für dich, in diesem Haus zu leben, weil ich nicht konnte … Es ist gut, dass du kommst. Papa wird sich von nun an um dich kümmern.“
Er fügte hinzu: „Unser Familienunternehmen läuft wieder. Du bist nicht mehr auf jemanden angewiesen. Papa kann für dich sorgen.“
Die Wärme seiner Worte ließ Avas Augen brennen.
Sie schniefte und unterdrückte die Tränen. „Okay.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Augen waren rot und geschwollen.
Zehn Jahre. Sie hatte ganze zehn Jahre damit verbracht, einen Mann zu lieben, der ihr niemals gehören würde.
Sie musste gehen.
Sie musste Elias Wagner aus ihrem Herzen reißen, Stück für Stück, egal, wie sehr es schmerzte.
Mit einem tiefen Atemzug verließ sie ihr Zimmer. Das Licht im Arbeitszimmer am Ende des Flurs war an.
Elias arbeitete noch.
Sie zögerte einen Moment, dann ging sie hinüber, den Zulassungsbescheid der NYU in der Hand. Sie musste es ihm sagen.
Sie blieb an der halboffenen Tür stehen. Durch den Spalt konnte sie den Mann im Inneren sehen.
Er trug ein schlichtes graues Hemd, seine Haltung war aufrecht und sein Gesichtsausdruck konzentriert. Das Licht der Lampe warf einen sanften Schein auf sein scharfes Profil und zeichnete ein Gesicht nach, das so gut aussah, dass es unwirklich schien. Eine goldgeränderte Brille saß auf seinem hohen Nasenrücken und verlieh seiner kühlen Ausstrahlung einen Hauch von kultivierter Eleganz.
Das war Elias Wagner. Der ehemalige Schützling ihres Vaters, der brillante junge Mann, der loyal geblieben war, als das Geschäft ihrer Familie zusammenbrach. Als ihre Eltern sich scheiden ließen und ihre Mutter das Land verließ, war es ihr Vater, der an seinem Tiefpunkt Elias gebeten hatte, ihr gesetzlicher Vormund zu werden. Er war der Mann, der sie großgezogen hatte.
Ihr Vormund, ohne Blutsverwandtschaft.
Und der Mann, den sie zehn Jahre lang heimlich geliebt hatte.
„Elias“, rief sie leise, ihre Stimme kaum ein Flüstern.
Elias blickte auf, seine Stirn legte sich leicht in Falten, als er sie sah. „Was ist los?“
Seine Stimme war so kalt und distanziert wie immer.
Avas Herz zog sich zusammen. Sie wollte gerade etwas sagen, als sein Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, ein klarer, angenehmer Ton.
Sein kalter Gesichtsausdruck schmolz in dem Moment, als er die Anrufer-ID sah. Eine Sanftheit, die sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, blühte in seinen Augen auf.
„Chloe“, sagte er, seine Stimme tief und weich.
Es war seine Verlobte, Chloe Becker.
„Der Veranstaltungsort? Entscheide du, mir ist alles recht. Mach dir keine Sorgen wegen der Kosten.“ Er lauschte der Person am anderen Ende, und ein liebevolles Lächeln umspielte seine Lippen. „Solange es dir gefällt, ist alles andere egal.“
Ava stand wie erstarrt an der Tür, ihre Hände und Füße wurden zu Eis.
Der Zulassungsbescheid in ihrer Hand fühlte sich an, als wöge er tausend Pfund.
Sie erinnerte sich plötzlich an ihren achtzehnten Geburtstag, vor nur zwei Monaten. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, um ihm ein Gemälde zu schenken, an dem sie ein Jahr lang gearbeitet hatte, mit dem Titel *Geheimnis*.
Auf dem Bild folgte ein junges Mädchen dem Rücken eines Mannes, ihre Augen voller Liebe.
Es war ihr Geständnis.
Elias' Reaktion war eine Raserei, die sie noch nie zuvor erlebt hatte.
Er fegte alle Geschenke vom Tisch, der Kuchen krachte auf den Boden.
„Ava Müller!“, hatte er gebrüllt, seine Augen rot vor Zorn. „Bist du wahnsinnig? Ich bin dein VORMUND!“
Sie hatte stur widersprochen, während ihr die Tränen über das Gesicht strömten. „Aber wir sind nicht blutsverwandt! Mein Vater hat dir vertraut! Und die Art, wie du mich immer verhätschelt hast … so behandelt kein Vormund sein Mündel!“
Er hatte gespottet, sein schönes Gesicht von Grausamkeit verzerrt. „Kannst du den Unterschied zwischen familiärer Zuneigung und Liebe nicht erkennen? Deine ganze Bildung war umsonst.“
Damit hatte er ihr Gemälde, ihr *Geheimnis*, gnadenlos in Stücke gerissen.
Er hatte sich umgedreht und war ohne einen Blick zurück gegangen, sie allein in den Trümmern ihres Geburtstags zurücklassend.
Sie hatte geweint und die Stücke aufgesammelt, sie sorgfältig wieder zusammengeklebt. Aber das Gemälde war, genau wie ihr Herz, von Narben übersät.
Selbst da hatte sie nicht aufgegeben.
Sie dachte, solange sie nur gut genug wäre, solange sie es an seine Alma Mater schaffen würde, würde er sie sehen.
Doch kurz nach ihrem Abitur brachte er Chloe Becker mit nach Hause.
Er hatte sie mit einem Lächeln vorgestellt. „Ava, das ist Chloe, meine Verlobte.“
In diesem Moment wusste sie es.
Es war wirklich vorbei.
All ihre verzweifelte, brennende Liebe der letzten zehn Jahre hatte nur sie selbst verbrannt.
Jetzt musste sie diejenige sein, die das Feuer löschte.
Sie musste ihn aus ihrem Herzen reißen.