Doch kaum waren wir in der Familienvilla angekommen, klingelte Dominiks Handy. Kassandra hatte wieder eine ihrer „Krisen“, und er ließ mich allein in der großen Eingangshalle stehen, um zu ihr zu eilen.
Der Butler teilte mir dann mit, dass ich im staubigen Abstellraum im dritten Stock untergebracht werden sollte. Auf Anweisung meiner Eltern. Sie wollten nicht, dass ich Kassandra bei ihrer Rückkehr verärgere.
Es ging immer nur um Kassandra. Sie war der Grund, warum sie meinen Stipendienfonds für die Universität geplündert hatten, und sie war der Grund, warum ich sieben Jahre meines Lebens verloren hatte. Ich war ihre leibliche Tochter, aber ich war nur ein Werkzeug, das man benutzen und wegwerfen konnte.
In dieser Nacht, allein in diesem engen Raum, vibrierte ein billiges Handy, das mir eine Wärterin geschenkt hatte, mit einer E-Mail. Es war ein Jobangebot für eine geheime Stelle, auf die ich mich vor acht Jahren beworben hatte. Es beinhaltete eine neue Identität und ein sofortiges Umzugspaket. Ein Ausweg.
Mit zitternden Fingern tippte ich meine Antwort.
„Ich nehme an.“
Kapitel 1
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich ins Gefängnis kam. Es war nicht die Entscheidung eines Richters oder einer Jury. Es war meine eigene Familie.
Vor sieben Jahren setzte sich meine Adoptivschwester Kassandra Steiner betrunken ans Steuer. Sie fuhr jemanden an und flüchtete. Die Person überlebte, aber das Verbrechen war schwerwiegend.
Meine Eltern, die Familie Salinas, setzten sich mit mir zusammen. Meine leibliche Schwester, Joline, war auch da.
„Kassandra geht es nicht gut“, sagte meine Mutter mit kalter Stimme. „Sie kann nicht ins Gefängnis. Das würde sie zerbrechen.“
„Kannst du für sie gehen?“, fragte mein Vater, ohne mich anzusehen. „Es sind nur ein paar Jahre.“
Ich weigerte mich. Ich konnte nicht fassen, was sie von mir verlangten. Aber eines Nachts zerrten sie mich in ein Auto. Es war nicht ihr Auto. Es war ein Polizeiwagen.
Mein Verlobter, Dominik Voss, war da. Er war eine große Nummer in Hamburg, ein Finanzmagnat, der alles regeln konnte. Er hatte alles arrangiert. Er nahm mein Gesicht in seine Hände, seine eigenen Augen waren von einem Schmerz erfüllt, den ich nicht verstand.
„Annamarie, wenn du rauskommst, werde ich dich heiraten“, versprach er. „Halte diese sieben Jahre einfach durch. Es ist der einzige Weg, dich vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren.“
Ich verstand nicht, welches schlimmere Schicksal er meinte. Ich verstand nur den Verrat.
Jetzt sind sieben Jahre vergangen. Das schwere Eisentor glitt auf, und ich trat hinaus in eine Welt, die sich zu hell, zu laut anfühlte.
Ein eleganter schwarzer Wagen wartete. Dominik Voss stieg aus. Er sah genauso aus wie immer, unverschämt gutaussehend in seinem maßgeschneiderten Anzug, kein einziges Haar war fehl am Platz.
Er öffnete seine Arme, um mich zu umarmen. Ich wich einen Schritt zurück.
Er sah verletzt aus, seine Arme sanken an seine Seiten. „Annamarie.“
Ich sah an mir herunter. Meine Kleidung war billig, vom Gefängnis gestellt. Mein Haar war stumpf, meine Haut blass. Ich war dünn, nur noch scharfe Kanten und Schatten. Sieben Jahre Gefängnisessen und harte Arbeit hatten mich zu jemandem geformt, den ich nicht wiedererkannte. Er hingegen sah aus, als wäre er gerade einem Magazin entstiegen. Der Kontrast war ein körperlicher Schlag.
„Ich bin hier“, sagte er mit sanfter Stimme. „Ich habe dir gesagt, dass ich da sein werde. Wir werden heiraten. Wir werden unser Leben beginnen.“
Das Versprechen fühlte sich hohl an, ein Echo aus einem anderen Leben. Ich sah ihn an, sah ihn wirklich an, und fühlte nichts. Die Liebe, die ich einst empfunden hatte, die verzweifelte Hoffnung, die mich die ersten Jahre im Gefängnis am Leben gehalten hatte, war zu Staub zerfallen.
„Wo sind sie?“, fragte ich. Meine Stimme war rau vom Nichtgebrauch.
Dominiks Miene verfinsterte sich. „Deine Eltern … und Joline … sie konnten nicht kommen. Kassandra hatte heute Morgen wieder eine ihrer Krisen. Sie mussten sie ins Krankenhaus bringen.“
Natürlich. Kassandra. Es ging immer um Kassandra. Das zerbrechliche, kränkliche Mädchen, das meine Eltern vor Jahren adoptiert hatten. Sie war ihr Ein und Alles. Ich war ihre leibliche Tochter, aber ich war nur ein Nebengedanke, ein Werkzeug, das man benutzen und wegwerfen konnte.
Ich erinnerte mich daran, wie ich meine leiblichen Eltern, die Familie Salinas, voller Hoffnung gefunden hatte. Ich war eine Waise und dachte, ich hätte mein Zuhause gefunden. Aber sie hatten bereits ihre perfekte Tochter in Kassandra. Ich war nur die unbequeme Wahrheit.
Dominik fuhr mich zurück zur Salinas-Villa in Blankenese. Es war nicht mein Zuhause. Es war nur das Haus, in dem ich früher gelebt hatte. Der Butler, ein Mann, der mich seit meiner Jugend kannte, sah mich mit Verachtung an.
„Herr und Frau Salinas haben angewiesen, dass Sie das hintere Zimmer im dritten Stock benutzen sollen“, sagte er mit einer Stimme, die vor Herablassung troff. „Sie wollen nicht, dass Sie Fräulein Kassandra stören, wenn sie zurückkommt.“
Das hintere Zimmer war ein glorifizierter Abstellraum, staubig und vergessen. Dorthin hatten sie mich immer gesteckt, aus den Augen, aus dem Sinn.
Dominik sah sichtlich peinlich berührt aus. „Ich werde mit ihnen reden, Annamarie. Das ist nicht richtig.“
Aber dann klingelte sein Handy. „Es ist deine Mutter“, sagte er, sein Gesicht von Sorgenfalten durchzogen. „Ich muss ins Krankenhaus. Kassandra fragt nach mir.“
Er wählte sie. Wieder einmal. Natürlich tat er das. Er wählte immer sie.
Ich nickte und fühlte nichts als eine tiefe Leere. „Geh.“
Er ging. Ich stand allein in der großen Eingangshalle, ein Geist im Haus meiner eigenen Familie. Ich ging die Hintertreppe hinauf zu dem kleinen, engen Zimmer, das für mich bestimmt war.
Die Tür stand einen Spalt offen. Ich konnte meine Eltern im Hauptwohnbereich unten reden hören.
„Ist sie untergebracht?“, die Stimme meiner Mutter, scharf und genervt.
„Ja, gnädige Frau. Sie ist im Abstellraum“, antwortete der Butler.
„Gut. Lass sie da oben. Wir können nicht riskieren, dass sie Kassandra aufregt. Dominik ist auf dem Weg ins Krankenhaus. Er weiß, was wichtig ist.“
Mein Herz, von dem ich dachte, es sei zu Stein geworden, spürte einen kalten, scharfen Schmerz.
Ich schloss die Tür zu meinem kleinen Zimmer und setzte mich auf die klumpige Matratze. Mein Handy, ein billiges Wegwerfhandy, das mir eine freundliche Wärterin geschenkt hatte, summte. Es war eine E-Mail.
Die Betreffzeile lautete: „Geheime Position – Staatliches Forschungsinstitut für Kunstgeschichte.“
Es war ein Angebot. Ein Job in einer geheimen Abteilung für Kunstrestaurierung, eine Stelle, auf die ich mich vor acht Jahren beworben hatte, bevor mein Leben mir gestohlen wurde. Es kam mit einer neuen Identität und einem Umzugspaket.
Ein Ausweg.
Mit zitternden Fingern tippte ich meine Antwort.
„Ich nehme an.“