Mein ganzes Leben war ein Krieg gegen sie gewesen, ein Krieg, den ich bereits verloren hatte.
Ich schloss erschöpft die Augen, und als ich sie wieder öffnete, war ich ein Teenager. Ich war zurück im Gruppenheim, genau an dem Tag, an dem die wohlhabende Familie Brandt kam, um ein Pflegekind auszuwählen.
Auf der anderen Seite des Raumes starrte mich ein Junge mit vertrauten, gequälten Augen an. Julian.
Er sah genauso schockiert aus, wie ich mich fühlte.
„Eva“, formte er lautlos mit den Lippen, sein Gesicht war blass. „Es tut mir so leid. Diesmal werde ich dich retten. Ich verspreche es.“
Ein bitteres Lachen wäre mir beinahe entfahren. Das letzte Mal, als er versprach, mich zu retten, landete unser Sohn in einem winzigen Sarg.
Kapitel 1
Das Letzte, was mir mein Ehemann, Julian Brandt, gab, war ein Abschiedsbrief.
Er war nicht an mich adressiert. Er war für Bianca Bauer, seine Pflegeschwester, die Frau, die unsere Ehe zwanzig Jahre lang zur Hölle gemacht hatte.
„Bianca“, stand da in seiner eleganten Handschrift, „es tut mir leid. Ich konnte dich nicht beschützen. Ich hinterlasse dir und deiner Familie alles. Vergib mir.“
Ich stand in dem kalten, sterilen Büro, der Geruch von Schießpulver hing noch in der Luft. Er hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt, und seine letzten Gedanken galten einer anderen Frau. Alles, unser Tech-Imperium, dessen Architektin ich gewesen war, mein Lebenswerk, gehörte jetzt ihr.
Es war immer sie. Jede Krise drehte sich um Biancas Tränen, Biancas Bedürfnisse, Biancas inszenierte Dramen. Sie war der Grund, warum unser Kind starb, erfroren in einem liegengebliebenen Auto auf einer abgelegenen Straße, weil Julian an Biancas Seite eilen musste, nachdem sie behauptet hatte, bedroht zu werden.
Mein ganzes Leben war ein Krieg gegen sie gewesen, ein Krieg, den ich soeben verloren hatte.
Ich schloss die Augen, eine Welle der Erschöpfung überrollte mich. Die Trauer war eine physische Last, die mir die Luft aus den Lungen presste. Dann ein stechender Schmerz in meiner Brust, ein blendendes Licht, und die Welt löste sich auf.
Ich roch Antiseptikum und billige Suppe. Ich öffnete die Augen. Ich lag auf einer klumpigen Matratze in einem überfüllten Raum. Die Wände hatten einen deprimierenden Beigeton und blätterten in den Ecken ab. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Ich kannte diesen Ort. Das war die Jugendhilfegruppe Sonnenberg. Meine Hände waren klein, mein Körper war drahtig und fremd. Ich war wieder ein Teenager.
Eine Stimme durchbrach den Nebel. „Eva, steh auf! Die Brandts sind hier!“
Ich setzte mich kerzengerade auf. Heute. Es war genau der Tag, an dem die wohlhabende Familie Brandt kam, um ein Pflegekind auszuwählen. Der Tag, an dem sich mein Leben mit dem von Julian verflochten hatte.
Ein Junge auf der anderen Seite des Raumes, mit vertrautem dunklem Haar und gequälten Augen, starrte mich direkt an. Julian. Er sah genauso fassungslos aus, wie ich mich fühlte.
„Eva“, formte er lautlos mit den Lippen, sein Gesicht war blass. „Es tut mir so leid. Diesmal werde ich dich retten. Ich verspreche es.“
Mich retten? Ein bitteres Lachen wäre mir beinahe entfahren. Das letzte Mal, als er versprach, mich zu retten, landete unser Sohn in einem winzigen Sarg.
In meinem ersten Leben hatte ich verzweifelt versucht, diesem Ort zu entkommen. Ich war ehrgeizig und klug, und ich sah die Brandts als meine einzige Eintrittskarte in ein besseres Leben. Ich hatte wochenlang über sie recherchiert, ihre Interessen, ihre Persönlichkeiten, was sie bei einem Kind suchten. Ich hatte eine perfekte kleine Rede vorbereitet. Ich trug mein sauberstes, wenn auch immer noch schäbiges, Kleid. Ich war entschlossen, ihre perfekte Wahl zu sein.
Und ich wäre es auch gewesen.
Aber dann war Julian aufgetaucht und hatte ein schniefendes, bemitleidenswert aussehendes Mädchen hinter sich hergezogen. Bianca Bauer.
„Sie braucht mehr als jeder andere ein Zuhause“, hatte er seinen Eltern erklärt, seine Stimme voller dieses fehlgeleiteten, edlen Mitleids, das er immer für sie empfand. „Die anderen Kinder mobben sie.“
Bianca hatte auf Kommando geschluchzt, sich hinter ihm versteckt und Lügen über mich geflüstert. „Eva macht mir Angst. Sie sagt, ich verdiene es nicht, glücklich zu sein.“
Julian, der in jenem Leben geschworen hatte, mein Beschützer zu sein, hatte ihr sofort geglaubt. Er hatte mich mit solcher Enttäuschung angesehen. „Eva, wie konntest du so grausam sein?“
Dieser eine Satz hatte mein Schicksal besiegelt. Ich verbrachte fünf weitere elende Jahre im System, während Bianca in der Villa der Brandts willkommen geheißen wurde, in Seide und Mitgefühl gehüllt.
Aber diesmal wusste ich es besser. Ich war nicht das ehrgeizige Mädchen, das versuchte, ihre Zuneigung zu gewinnen. Ich war eine 40-jährige Frau im Körper eines Teenagers, und mein einziger Ehrgeiz war es, von ihnen allen frei zu sein.
Frau Brandt, eine freundlich aussehende Frau mit sanften Augen, lächelte mich bereits an. „Hallo, meine Liebe. Du musst Eva sein. In deiner Akte steht, du bist die Klassenbeste.“
„Sie ist ein wundervolles Mädchen“, sagte die Heimleiterin mit zuckersüßer Stimme.
Julian stand neben seiner Mutter, seine Augen flehten mich an. „Mama, Papa, ich finde, wir sollten Eva wählen.“
Ich sah die Hoffnung in seinen Augen, das verzweifelte Bedürfnis, Wiedergutmachung zu leisten. Er wollte die Vergangenheit reparieren.
Pech für ihn, ich wollte sie auslöschen.
Gerade als Herr Brandt den Mund öffnete, um zuzustimmen, hallte ein lauter Schrei aus dem Flur.
Einen Moment später humpelte Bianca herein und stützte sich schwer auf ein anderes Mädchen. Ihr Knöchel war in einen schmutzigen Verband gewickelt, und frische Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie sah so zerbrechlich aus, so gebrochen.
„Bianca, was ist passiert?“, eilte Frau Brandt besorgt an ihre Seite.
„Ich … ich bin gestürzt“, stammelte Bianca, ihre Augen huschten zu einer Gruppe größerer Jungen in der Ecke. „Sie haben mich geschubst. Sie sagten … sie sagten, ein Almosenfall wie ich verdient keine neuen Schuhe.“
Es war eine meisterhafte Vorstellung. Das musste ich ihr lassen. In meinem ersten Leben hatte ich meinen Verstand benutzt, um zu überleben. Bianca benutzte ihre Tränen. Und ihre Tränen waren immer wirkungsvoller.
Julians Gesicht verhärtete sich mit diesem vertrauten, beschützerischen Zorn. Aber diesmal konnte ich den Konflikt in seinen Augen sehen. Ein Flackern des Zweifels. Er wusste, dass Bianca zu so etwas fähig war. Aber der Anblick von ihr, so scheinbar hilflos, setzte sein Gehirn immer noch kurz.
Er blickte von ihr zu mir, seine Schuld kämpfte mit seinem Mitleid.
Bevor er wieder die falsche Wahl treffen konnte, trat ich vor.
„Frau Brandt“, sagte ich, meine Stimme leise, aber klar. „Sie hat recht. Die Jungen hier sind sehr rau. Bianca ist so zart. Sie wird oft verletzt.“
Ich wandte mich an Julian, mein Gesichtsausdruck voller gespielter Empathie. „Julian, du solltest sie beschützen. Sie braucht wirklich eine Familie wie eure.“
Frau Brandts Herz schmolz. „Oh, du armes Ding“, sagte sie und strich Bianca über das Haar.
Julian sah mich völlig verwirrt an. Er konnte nicht verstehen, warum ich seine Familie meiner Erzfeindin überließ.
Er öffnete den Mund, ein verwirrter Protest formte sich auf seinen Lippen.
Aber ich sprach zur gleichen Zeit, meine Stimme perfekt synchron mit seiner.
„Nimm Bianca.“
„Nimm Bianca“, sagte er, seine eigenen Worte hallten meine wider, angetrieben von einem lebenslang eingebrannten Instinkt.
Die Entscheidung war gefallen.