An diesem Tag verlor ich unser Baby, ganz allein. Er rief nicht einmal an.
Als er am nächsten Morgen endlich an meinem Krankenhausbett erschien, trug er einen anderen Anzug. Er flehte um Verzeihung für seine Abwesenheit, ohne den wahren Grund für meine Tränen zu kennen.
Dann sah ich es. Ein dunkler Knutschfleck an seinem Hals.
Er war bei ihr gewesen, während ich unser Kind verlor.
Er erzählte mir, der letzte Wunsch seines sterbenden Sohnes sei es, seine Eltern verheiratet zu sehen. Er flehte mich an, einer vorübergehenden Trennung und einer Schein-Hochzeit mit ihr zuzustimmen.
Ich blickte in sein verzweifeltes, egoistisches Gesicht, und eine seltsame Ruhe überkam mich.
„Okay“, sagte ich. „Ich mache es.“
Kapitel 1
Der saubere, sterile Geruch der Privatklinik stieg mir in die Nase. Ich saß auf der Kante einer Untersuchungsliege und sah zu, wie eine Krankenschwester den kleinen Schnitt an meiner Hand säuberlich verband. Ein dummer Ausrutscher mit einem Küchenmesser.
Es war wirklich nichts, aber Julian hatte darauf bestanden, dass ich es untersuchen lasse.
Die Tür der Klinik flog auf und er stürmte herein, sein teurer Anzug war etwas zerknittert.
„Elena, ist alles in Ordnung?“
Seine Augen, dieselben, die sonst Aufsichtsräte beherrschten, waren weit aufgerissen vor Sorge. Er eilte zu mir, ignorierte die Krankenschwester und nahm meine unverletzte Hand.
„Julian, mir geht's gut. Es ist nur ein winziger Schnitt.“
Er schien mich nicht zu hören. Er untersuchte den frischen Verband, als wäre es eine schwere Wunde, sein Daumen strich sanft über mein Handgelenk.
„Du musst vorsichtiger sein“, murmelte er, seine Stimme tief und voller dieser vertrauten, besitzergreifenden Sorge, die mein Herz immer zum Flattern brachte.
Die Krankenschwester, eine junge Frau mit einem freundlichen Gesicht, lächelte uns an.
„Sie sind eine glückliche Frau. Er muss Sie wirklich sehr lieben.“
Ich lächelte zurück, ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. „Ich weiß.“
Wir waren das perfekte Paar. Elena Behringer und Julian Wagner. Die ehemalige Star-Mixologin, die ihre Karriere für den Tech-Milliardär aufgab, der sie vergötterte. Zwei Jahre einer Ehe, die der Neid aller war, die wir kannten.
Plötzlich durchbrach das herzzerreißende Weinen eines Kindes die Stille der Klinik. Es war ein Geräusch puren Schmerzes, gefolgt von der verzweifelten, beruhigenden Stimme einer Frau.
Das Geräusch kam aus dem Zimmer nebenan. Mein Lächeln verblasste.
Die Krankenschwester seufzte, ihr Gesichtsausdruck wurde traurig. „Der arme kleine Kerl. Er ist wegen seiner Chemo hier.“
„Chemo?“, fragte ich und vergaß meine eigene kleine Verletzung.
„Leukämie“, sagte sie leise. „Erst vier Jahre alt. Es ist einfach furchtbar.“
Eine Welle des Mitgefühls überkam mich. Ich konnte mir den Schmerz nicht vorstellen, den dieses Kind und seine Mutter durchmachten.
„Das ist schrecklich“, flüsterte ich.
Julian drückte meine Hand, sein Ton war abweisend. „Das ist traurig, aber es hat nichts mit uns zu tun, Eli. Lass uns nach Hause gehen.“
Er war immer so – fokussiert, ein wenig kalt, wenn es um Dinge außerhalb unserer perfekten Welt ging. Er begann, mir von der Liege zu helfen, bereit zu gehen.
Doch dann öffnete sich die Tür zum Nebenzimmer. Eine Frau mit müden Augen und billiger Kleidung kam heraus, an der Hand einen kleinen, blassen Jungen.
Der Junge weinte leise, sein Gesicht war tränenverschmiert. Die Frau sah verzweifelt aus, ihre Augen suchten den Raum ab, bis sie auf Julian landeten.
Sie erstarrte. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer Mischung aus Schock und etwas anderem, das ich nicht benennen konnte.
Sie machte einen Schritt nach vorne und zog den kleinen Jungen mit sich.
„Julian?“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Julian Wagner?“
Julians Körper wurde steif neben mir. Er drehte sich nicht um. Er sprach nicht.
Die Frau machte noch einen Schritt. „Ich bin's. Karla. Aus Las Vegas? Vor vier Jahren.“
Ich blickte von ihr zu meinem Mann, mein Herz begann ein wenig zu schnell zu schlagen. Eine kalte Furcht kroch meinen Rücken hinauf.
Der kleine Junge, Leo, blickte zu Julian auf. Und in seinem kleinen, blassen Gesicht sah ich es. Dieselbe markante Kieferpartie. Dieselben tiefliegenden Augen. Er war eine Miniaturversion meines Mannes.
Julian drehte sich endlich um, sein Gesicht eine Maske des Unglaubens. „Ich kenne Sie nicht.“
Seine Ablehnung kam schnell, zu schnell.
„Das Venetian“, drängte Karla, ihre Stimme gewann an Stärke. „Du warst dort für eine Tech-Konferenz. Wir … wir haben die Nacht miteinander verbracht.“
Eine Erinnerung tauchte auf, etwas, das Julian mir vor langer Zeit einmal erzählt hatte. Ein betrunkener Fehler in Las Vegas, bevor er mich traf. Er hatte gesagt, es sei ein bedeutungsloser One-Night-Stand gewesen, ein dummer Fehltritt, den er bereute.
Mein Blick fiel zurück auf den Jungen, Leo. Vier Jahre alt.
Die Rechnung war einfach. Die Rechnung war brutal.
Die warme, glückliche Blase, in der ich lebte, zerplatzte nicht einfach. Sie zersprang in eine Million eiskalte Scherben.
Ich sah Julian an, meine Stimme kaum ein Flüstern. „Stimmt das?“
Er wich meinem Blick aus.
„Wir brauchen einen Vaterschaftstest“, sagte ich, die Worte fühlten sich fremd in meinem Mund an. Meine eigene Stimme klang fern, als gehörte sie jemand anderem.
Das Warten auf die Ergebnisse war die längste Stunde meines Lebens. Karla saß schweigend da, hielt ihren Sohn im Arm, ihr Gesichtsausdruck war ruhig, fast siegessicher. Julian tigerte auf und ab, sein Gesicht finster, sein Charisma verschwunden, ersetzt durch eine rohe, brodelnde Schuld.
Ich saß nur da, meine Hände im Schoß verkrampft, und versuchte, mich zusammenzureißen. Ich fühlte mich taub, als würde ich einen Film über mein zerfallendes Leben ansehen.
Endlich kam die Krankenschwester mit einem Blatt Papier zurück. Sie musste kein Wort sagen. Der Blick auf ihrem Gesicht war genug.
Die Ergebnisse bestätigten es. 99,9 % Wahrscheinlichkeit.
Leo war Julians Sohn.
Julian starrte auf das Papier, sein Gesicht aschfahl. Er sah mich an, sein Mund öffnete und schloss sich, aber es kamen keine Worte heraus. Er sah einfach nur verloren aus, gebrochen.
Karla begann zu schluchzen, ein kalkuliertes, mitleiderregendes Geräusch. Sie zog Leo näher an sich.
„Julian, er stirbt“, weinte sie. „Die Ärzte sagen, er braucht eine Knochenmarktransplantation. Du bist seine einzige Hoffnung. Bitte, er ist dein Sohn.“
Das Wort „Sohn“ schien Julian wie ein körperlicher Schlag zu treffen. Er blickte auf den kranken kleinen Jungen, auf die Tränen in seinem Gesicht, und etwas in meinem Mann veränderte sich. Die Schuld in seinen Augen wurde durch ein wildes, verzweifeltes Verantwortungsgefühl ersetzt.
Er sah mich an, aber sein Blick war fern. Es war, als wäre er bereits in einer anderen Welt, einer Welt, in der ich nicht existierte.
„Elena“, sagte er mit angespannter Stimme. „Fahr nach Hause. Ich … ich kümmere mich darum. Fahr einfach nach Hause und ruh dich aus.“
Fahr nach Hause.
Die Worte hallten in meinem Kopf wider. Er schickte mich weg. In der ersten wirklichen Krise unserer Ehe wählte er sie. Er stieß mich hinaus.
Es war ein Urteil. Ein Verdikt. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich verloren hatte.
Ich konnte nicht einmal die Wut aufbringen, um zu kämpfen. Ich fühlte nur eine tiefe, aushöhlende Traurigkeit. Das war der Mann, der versprochen hatte, mich für immer zu lieben und zu beschützen. Der Mann, den ich mit jeder Faser meines Seins liebte.
Aber er hatte ein Geheimnis. Ein vier Jahre altes Geheimnis, das jetzt im Sterben lag. Und ich konnte ihn nicht dafür hassen, dass er sein Kind retten wollte.
Ich stand auf, meine Beine fühlten sich unsicher an. Die Welt kippte leicht. Ich verließ die Klinik und ließ ihn dort mit seiner Vergangenheit, seinem Sohn und der Frau, die gerade meine Zukunft zerstört hatte.
Ich kam in unserem wunderschönen, leeren Haus an. Das riesige Hochzeitsporträt im Foyer schien mich zu verspotten. Unsere lächelnden Gesichter, so voller Hoffnung. Mir wurde schlecht davon.
Eine Welle von Schwindel erfasste mich, und die Welt wurde schwarz.
Als ich aufwachte, lag ich in meinem eigenen Bett. Unsere Haushälterin, Frau Schmidt, blickte mit besorgten Augen auf mich herab.
„Frau Wagner, Sie sind in Ohnmacht gefallen. Ich habe den Arzt gerufen.“
Der Arzt, ein freundlich aussehender Mann, packte seine Tasche. Er lächelte sanft.
„Herzlichen Glückwunsch, Frau Wagner. Sie sind schwanger.“
Schwanger.
Das Wort hing in der Luft. Ein winziger Funke Freude flackerte in mir auf, sofort gefolgt von einer Welle erdrückender Unsicherheit. Ein Baby. Unser Baby.
Aber wollte Julian unser Baby jetzt überhaupt noch?
„Wo ist er?“, fragte ich Frau Schmidt mit schwacher Stimme. „Wo ist Julian?“
„Er ist nicht nach Hause gekommen, gnädige Frau. Er hat nicht angerufen.“
Er war immer noch im Krankenhaus. Bei ihnen.
Ich lag da, eine Hand auf meinem flachen Bauch, die andere umklammerte mein Handy, ein Sturm aus Freude und Angst tobte in mir.
Er blieb die ganze Nacht im Krankenhaus. Er rief nie an. Er schrieb keine Nachricht.
Am nächsten Morgen, als ich allein am riesigen Esstisch saß und versuchte, etwas Toast hinunterzuwürgen, summte mein Handy.
Eine Nachricht von einer unbekannten Nummer.
Ich weiß, dass Sie Ihre Familie suchen. Ich glaube, ich kann helfen.
Ich starrte auf den Bildschirm, mein Herz hämmerte. Meine Familie. Die Familie, an die ich mich nicht erinnern konnte. Die Familie, von der ich dachte, sie sei für immer für mich verloren.
Ich tippte eine einzige, zittrige Antwort zurück.
Wer ist da?