In dieser Nacht lauschte ich durch die Wände, wie er sie in sein Bett brachte.
Endlich verstand ich, dass das Versprechen, das er mir als Kind gegeben hatte, eine Lüge war. Ich war nicht seine Familie. Ich war sein Eigentum.
Nach einem Jahrzehnt der Hingabe zerfiel meine Liebe zu ihm endlich zu Asche.
Also verließ ich an seinem Geburtstag, dem Tag, an dem er seine neue Zukunft feierte, seinen goldenen Käfig für immer.
Ein Privatjet wartete darauf, mich zu meinem wahren Vater zu bringen – seinem größten Feind.
Kapitel 1
Serafina POV:
Ich erfuhr, dass mein Leben vorbei war, an dem Tag, als Dante Moretti seine Verlobung mit einer anderen Frau bekannt gab.
Es war kein Flüstern in den großen, leeren Hallen des Moretti-Anwesens. Es war kein leises Geständnis mitten in der Nacht. Es war eine Schlagzeile, krass und schwarz auf dem Bildschirm meines Handys, eine Eilmeldung, die auf der Marmor-Arbeitsplatte summte wie ein sterbendes Insekt.
*Dante Moretti, Don von Hamburgs mächtigster Familie, heiratet Isabella Vescoli und vereint zwei kriminelle Imperien.*
Die Worte verschwammen. Meine Welt schrumpfte auf das Handy in meiner Hand, sein kaltes Gewicht ein plötzlicher, schockierender Anker in einem Meer des Unglaubens. Das musste ein Fehler sein. Ein Machtspiel. Eine Lüge, um einen Feind auszuräuchern. Es konnte nicht real sein.
Denn Dante gehörte mir.
Er gehörte mir, seit ich acht Jahre alt war. Ich erinnere mich an das Feuer, den beißenden Geruch von Rauch und Angst, der meine Lungen füllte. Die Rossi-Familie, meine Familie, wurde auseinandergerissen, und ich war nur ein Kollateralschaden, der zurückgelassen wurde. Dann erschien er durch die Flammen, ein Junge von sechzehn Jahren mit Augen so dunkel und unversöhnlich wie die Welt, die er befehligte. Er warf seinen eigenen Körper über meinen, schützte mich vor der Hitze und dem Blut, das an die Wände spritzte.
Er hatte in mein Haar geflüstert, seine Stimme rau, aber fest. „Du bist in Sicherheit. Du bist jetzt eine Moretti.“
Zehn Jahre lang war dieses Versprechen meine Religion gewesen. In diesem goldenen Käfig aus Marmorböden und stillen, wachsamen Leibwächtern war Dante mein Gott. Er war derjenige, der mir ein Nachtlicht kaufte, als ich zehn war, weil die Albträume nicht aufhörten, eine kleine Keramikkatze, die ein sanftes, unerschütterliches Licht warf. „Sie wird die Monster fernhalten“, hatte er gesagt, seine große Hand sanft, als er es einsteckte.
Er war das Monster, natürlich. Das wusste ich. Die Welt wusste das. Aber er war mein Monster, und er hielt alle anderen in Schach.
Dann, an meinem siebzehnten Geburtstag, tat ich das Dümmste, was ein Mädchen in meiner Position tun konnte. Ich schrieb ihm einen Brief. Ein Geständnis, niedergeschrieben in unbeholfenen, von Herzen kommenden Sätzen, befleckt mit einem Tropfen meines eigenen Blutes für den dramatischen Teenager-Effekt. Ich sagte ihm, dass ich ihn liebte.
Ich fand den Brief in tausend winzige Stücke zerrissen im Papierkorb vor seinem Arbeitszimmer. In dieser Nacht stellte er mich in der Bibliothek, sein Körper sperrte mich gegen ein Regal mit ledergebundenen Büchern ein. Seine Augen loderten vor einer Wut, die ich noch nie auf mich gerichtet gesehen hatte.
„Liebe mich niemals, Fina“, hatte er geknurrt, seine Stimme ein tiefes, gefährliches Grollen. „Wenn du mich liebst, wirst du sterben. Verstehst du das?“
Ich verstand. Aber ich glaubte ihm nicht. Es fühlte sich an wie ein Test. Eine weitere verdrehte Art, mich zu beschützen.
Jetzt, als ich in das Gesicht von Isabella Vescoli starrte, die neben ihm lächelte, ihre Hand besitzergreifend auf seinem Arm, wusste ich es. Es war kein Test. Es war eine Prophezeiung.
Er brachte sie an diesem Abend zum Anwesen. Ich stand auf der großen Treppe, als sie hereinkamen. Isabella war alles, was ich nicht war – groß, elegant, mit der Art von scharfen, schönen Kanten, die einen Kampf versprachen. Sie bewegte sich, als ob ihr der Ort bereits gehörte.
Dantes Augen fanden meine. Da war keine Wärme, keine Entschuldigung. Nur ein flacher, kalter Befehl.
„Serafina“, sagte er, seine Stimme hallte im höhlenartigen Foyer wider. „Das ist Isabella. Du wirst sie als die zukünftige Herrin der Moretti-Familie ansprechen.“
Die Worte waren ein körperlicher Schlag. Herrin. Der Titel, der hätte sein sollen ...
Isabellas Lächeln war eine Waffe. „Es ist mir eine Freude, endlich den kleinen Kanarienvogel kennenzulernen, den Dante so sicher in seinem Käfig hält.“
Meine Hände wurden eiskalt. Ich konnte die Augen jedes Wachmanns, jedes Dieners auf mir spüren. Ich war eine Rossi von Geburt, eine Moretti aus Gnade. Ein streunender Hund, den er aus den Trümmern seiner Feinde aufgelesen hatte. Und jetzt war die wahre Königin angekommen, um ihren Thron zu beanspruchen.
In dieser Nacht, eingesperrt in meinem Schlafzimmer, starrte ich mein Spiegelbild an. Mein Haar, ein Schleier aus blassem Gold, fiel mir bis zur Taille. Dante hatte mein Haar immer geliebt. Er hatte mir einmal gesagt, es sei das einzig Reine in seiner Welt.
Ich ging in mein Badezimmer, fand die Gartenschere, die wir zum Schneiden von Blumenstielen benutzten, und hielt eine dicke Strähne dieses reinen, goldenen Haares in meiner Hand.
Schnipp.
Es fiel auf die kalten Fliesen, ein totes Ding.
Schnipp. Schnipp. Schnipp.
Ich hörte nicht auf, bis alles weg war, in ungleichmäßigen, gezackten Stücken um meine Ohren abgehackt. Ich sah wild aus. Zerstört.
Ich trat auf meinen Balkon, die kalte Nachtluft biss in meinen frisch entblößten Nacken. Aus einer versteckten Tasche meiner Jacke zog ich eine Zigarette, die ich einem der Wachleute gestohlen hatte. Meine Hände zitterten, als ich sie anzündete, der ungewohnte Stich des Rauchs traf meinen Rachen. Ich hustete, meine Augen tränten.
Ich war nicht länger rein. Ich gehörte nicht länger ihm. Ich war nichts. Und wenn man nichts hat, hat man nichts mehr zu verlieren.
Ich nahm einen weiteren Zug, ließ den Rauch mich füllen und gab der unversöhnlichen Hamburger Skyline ein Versprechen. Ich würde hier rauskommen. Oder ich würde bei dem Versuch sterben.