Aber ich habe überlebt. Und nachdem er im Fernsehen zugesehen hat, wie ich die höchste Architekturauszeichnung der Welt entgegennehme, kniet er jetzt vor meinem Hotel und fleht den Geist, den er selbst erschaffen hat, an, nach Hause zu kommen.
Kapitel 1
Elena Wagner POV:
In dem Moment, als mein Mann, der gefürchtetste Mann Berlins, unter die Dusche trat, leuchtete auf seinem Laptop eine Nachricht auf, die mein Todesurteil besiegeln sollte: *Taufe von Leo Russo. Heute.*
Das Wasser begann zu laufen, ein Zischen von Dampf, der den Badezimmerspiegel beschlug. Ich stand wie erstarrt an seinem Schreibtisch, der Duft seines teuren Parfüms und die Gewalt des Tages hingen noch in der Luft seines Arbeitszimmers. Meine Aufgabe war einfach. Ihm seinen Kaffee bringen, schwarz, ohne Zucker, genau so, wie der Capo des Russo-Clans ihn mochte.
Aber der Name auf dem Bildschirm pulsierte vor meinen Augen. *Leo Russo.*
Unser Name. Der Name, den Alessandro einem eigenen Kind mit mir verweigert hatte.
Die Nachricht kam von einem „Conti“-Account. Die Contis. Unsere Erzfeinde. Ein rivalisierender Clan, mit dem wir seit Generationen in einem kalten Krieg lagen. Der Gedanke war so wahnsinnig, so unmöglich, dass es sich anfühlte, als würde mein Gehirn einen Kurzschluss erleiden.
Eine private Taufe. Für einen heimlichen Sohn. Mit einer Conti-Frau.
Ich musste es sehen. Das Bedürfnis war eine physische Kraft, die mich aus dem goldenen Käfig unseres Hauses zog. Das war ein tödlicher Regelverstoß. Das Conti-Territorium zu betreten, war eine Einladung für eine Kugel. Aber die Wahrheit war ein Gift, das ich trinken musste.
Die alte Steinkirche lag tief in ihrem Gebiet. Ich schlüpfte hinten hinein, ein Geist in den Schatten, mein Herz hämmerte gegen meine Rippen wie ein gefangener Vogel. Und dann sah ich ihn.
Alessandro. Mein Mann.
Er stand nahe am Altar, getaucht in das Licht der Buntglasfenster. In seinen Armen hielt er ein in Weiß gehülltes Baby. Eine Frau mit feuerrotem Haar, Sofia Conti, lehnte sich an seine Schulter, ihre Hand ruhte auf seinem Arm. Sie sahen aus wie eine Familie. Eine heilige Dreifaltigkeit des Verrats.
Seine Worte von vor Monaten hallten in meinem Kopf wider, kalt und scharf. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, Elena. Die Familie braucht Stabilität. Einen Erben in dieses Chaos hineinzubringen, wäre eine Schwäche.“ Er hatte es gesagt, während er mein Haar streichelte, seine Stimme ein leises, überzeugendes Murmeln, das ich vollkommen geschluckt hatte.
Seine „Geschäftsreisen“. Die langen Nächte, in denen er weg war, angeblich um seine Macht zu festigen. Hatte er sie alle mit ihr verbracht? Mit ihnen? Er hatte die heiligste Regel unserer Welt gebrochen, die Omertà, das Gesetz des Schweigens. Nicht gegenüber dem Gesetz, sondern gegenüber seiner eigenen Familie. Gegenüber mir.
Ich stolperte aus der Kirche und rang auf der kalten Straße nach Luft. Mein Handy summte in meiner Tasche. Alessandros Name leuchtete auf dem Bildschirm auf.
„Wo bist du, cara?“, seine Stimme war sanft, derselbe liebevolle Ton, den er immer benutzte.
„Nur spazieren“, log ich, meine Stimme angespannt.
Im Hintergrund seines Anrufs hörte ich es. Das Schreien eines Babys. Dann das leise Beruhigen einer Frau. Sofias. Mein Blut gefror in meinen Adern. Er war immer noch dort. Bei ihnen.
„Ich muss dich sehen“, sagte ich, die Worte brüchig. „Jetzt.“
„Elena, ich bin mitten in etwas…“, zögerte er.
Dann rief eine kleine, helle Stimme, klar wie eine Glocke: „Papa!“ Ein kleiner Junge, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, rannte von den Kirchenstufen und schlang seine Arme um Alessandros Bein.
Alessandros Atem stockte. Er legte auf, ohne ein weiteres Wort.
Ich beobachtete von der anderen Straßenseite, wie er das Kind in seine Arme nahm. Er küsste die Stirn des Jungen, eine Geste reiner, unbedachter Zuneigung, nach der ich mich seit Jahren gesehnt hatte. Das war keine Lüge. Das war keine politische Abmachung. Das war echt.
Die Erinnerungen an seine Eroberung überfluteten mich. Er, der König des Campus, der Erbe eines dunklen Throns, der mich, die stille Architekturstudentin, auserwählt hatte. Ich dachte, es wäre Liebe. Es war eine strategische Übernahme. Ich hatte mein Stipendium, meine Zukunft, aufgegeben, um die perfekte Frau des Capos zu sein. Um meine Loyalität zu zeigen.
Und alles war eine verdammte Lüge.
Meine Hand zitterte, als ich wieder mein Handy zückte. Ich rief nicht ihn an. Ich wählte eine Nummer in der Schweiz, eine, die ich vor langer Zeit auswendig gelernt hatte.
Der Direktor des Architektur-Stipendiums in Zürich meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
„Hier ist Elena Wagner“, sagte ich mit einer unheimlich ruhigen Stimme. „Ich rufe an, um die Stelle anzunehmen.“