Meine eigene Familie steckte mit drin. „Sie hat das Talent, ich weiß, aber sie hält dem Druck nicht stand“, sagte Laura und zitierte damit unsere Eltern. „Es ist besser so, für die Familie.“
Sie sahen mich als Motor, als Werkzeug, nicht als Tochter oder als die Frau, die Jakob in drei Monaten heiraten sollte.
Die Wahrheit war ein langsames, eiskaltes Gift. Der Mann, den ich liebte, die Familie, die mich großgezogen hatte – sie hatten sich an meinem Talent gelabt, seit ich auf der Welt war. Und das Baby, das ich unter dem Herzen trug? Es war kein Symbol unserer Zukunft; es war nur das letzte Schloss an dem Käfig, den sie um mich herum gebaut hatten.
Später fand Jakob mich zitternd auf dem Boden unserer Wohnung, seine Besorgnis war perfekt gespielt. Er zog mich in eine Umarmung und murmelte in mein Haar: „Wir haben so viel, worauf wir uns freuen können. Wir müssen an das Baby denken.“
In diesem Moment wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Am nächsten Tag tätigte ich einen Anruf. Während Jakob an einer anderen Leitung lauschte und seine Stimme vor einer Panik brach, die endlich echt war, sprach ich ruhig ins Telefon.
„Ja, hallo. Ich möchte meinen Termin für morgen bestätigen.“
„Den für den … Eingriff.“
Kapitel 1
Julia Wagner POV:
Die Melodie, in die ich drei Jahre lang meine Seele gegossen hatte, wurde zum Soundtrack des größten Verrats meines Lebens, und ich hörte alles durch die halb geöffnete Tür des Tonstudios, in dem ich praktisch lebte.
„Bist du absolut sicher, dass sie nichts ahnen wird?“, war Lauras Stimme ein nervöses Flüstern, dünn und piepsig, so anders als der kraftvolle, emotionale Ton, den sie beim Singen projizieren sollte.
Ein Moment der Stille. Ich stellte mir vor, wie Jakob, mein Verlobter, sich mit einer Hand durch sein perfekt gestyltes dunkles Haar fuhr, die Stirn in jener nachdenklichen Sorge gefurcht, die er für die Bewältigung ihrer Ängste reserviert hatte.
„Ich bin sicher“, sagte er, seine Stimme ein tiefes, selbstbewusstes Grollen, das meinem Herzen früher ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. „Julia vertraut mir. Und sie vertraut dir.“
„Aber es ist ihr Meisterwerk, Jakob. Jeder weiß das. Was, wenn jemand vom Label es infrage stellt?“
„Das werden sie nicht“, beharrte er, jetzt mit einer harten Kante in seiner Stimme. „Wir brauchen nur den finalen Master-Track. Sobald wir den haben, kümmere ich mich um den Rest. Ich sorge dafür, dass die richtigen Leute erfahren, dass dieser Song von dir stammt. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du den Avantgarde-Preis gewinnen kannst, Laura. Das ist deine einzige Chance.“
Meine beste Freundin, Alina, die Tontechnikerin, hatte mir vor einer Stunde geschrieben. „Jakob und Laura sind hier. Verhalten sich seltsam. Er fragt ständig nach dem finalen Mix von ‚Echos von uns‘. Sagte, du hättest es genehmigt. Hast du?“
Hatte ich nicht.
Ich hatte ihr gesagt, dass ich auf dem Weg sei. Ich wollte selbst sehen, was so dringend war.
„Sie ist einfach … so zerbrechlich“, murmelte Laura, ihre Stimme durchzogen von einem seltsamen, klebrigen Mitleid. „Sie hat das Talent, ich weiß, aber sie hält dem Druck nicht stand. Es ist besser so, für die Familie. Mama und Papa denken das auch.“
„Genau“, stimmte Jakob zu, seine Stimme wurde wieder weicher, schmeichelnder. „Sie ist der Motor, aber du bist der Star, Laura. Du hast die Schönheit, den Charme. Sie war nie für das Rampenlicht bestimmt. Dieser Song wird von dir veröffentlicht, und sie wird die Genugtuung haben, zu wissen, dass sie ihrer kleinen Schwester geholfen hat. Sie wird darüber hinwegkommen.“
Er machte meinen Klang zu einem Sprungbrett. Einem Werkzeug. Nicht zu einer Schwester, nicht zu einer Partnerin, nicht zu der Frau, die er in drei Monaten heiraten sollte.
Die Wahrheit ihres Komplotts brach nicht wie eine Welle über mich herein. Sie sickerte ein, ein langsames, eiskaltes Gift, das in meinem Magen begann und sich durch meine Adern ausbreitete, bis mein ganzer Körper sich wie ein Eisblock anfühlte.
Ich stand im schwach beleuchteten Flur, meine Hand ruhte noch auf dem kühlen Metall des Türrahmens. Meine Fingerknöchel waren weiß. Die scharfe Kante des Rahmens grub sich in meine Handfläche, ein kleiner, erdender Schmerz in einer Welt, die gerade in eine Million Stücke zersprungen war.
Meine Brust schmerzte nicht. Sie war einfach … leer. Ein ausgehöhlter Raum, wo mein Herz sein sollte.
Ich war hierhergekommen, um ihn zu überraschen. Ich hatte seinen Lieblingskaffee und ein Gebäck von der kleinen Bäckerei bei uns um die Ecke in Prenzlauer Berg gekauft, eine kleine Geste, um die baldige Fertigstellung des Songs zu feiern, von dem ich dachte, er würde unsere Karrieren definieren. Der Kaffee wurde jetzt kalt in meiner Hand.
Die Herbstluft draußen war frisch gewesen. Aber die Kälte, die ich jetzt spürte, hatte nichts mit dem Wetter zu tun.
Ich hätte mir Sorgen machen sollen, dass Laura sich in diesem zugigen Gebäude eine Erkältung holt. Ich hätte über die letzte Bridge des Songs nachdenken sollen, die, an der ich die ganze Nacht gefeilt hatte.
Stattdessen schnitt eine einzige, brutale Erkenntnis durch die Taubheit.
Verrat.
Es war kein scharfer Stich. Es war ein dumpfes, schweres Gewicht, das auf mich drückte und mir die Luft aus den Lungen presste. Es war der Geschmack von Asche in meinem Mund. Es waren die Gesichter meiner Mutter, meines Vaters, meiner Schwester und des Mannes, den ich liebte, die alle zu einer monströsen Einheit verschmolzen, die sich an meinem Talent, meiner Hoffnung und meiner Liebe genährt hatte, seit ich auf der Welt war.
Ich erinnere mich nicht daran, wie ich nach Hause gegangen bin. Der Weg war ein verschwommener Brei aus Straßenlaternen, die durch den einsetzenden Regen schmierten. Meine Füße bewegten sich mechanisch voreinander, losgelöst von meinem Verstand.
Ich bemerkte nicht, wie der Schlüssel im Schloss fummelte oder das Gewicht meines regennassen Mantels, als ich ihn in der Tür der Wohnung, die Jakob und ich teilten, abstreifte.
Mein Körper gab nach, bevor mein Verstand aufholen konnte. Ich rutschte an der Wand hinunter, mein Rücken schrammte am kühlen Putz entlang, und landete als Häufchen Elend auf dem Parkettboden.
Ich kauerte mich zusammen, die Arme um die Knie geschlungen, und begann zu beben. Die Kälte des Bodens sickerte durch meine Jeans, eine invasive Kühle, die sich tief in meinen Knochen festsetzte.
Mein Magen drehte sich mit einem kranken, säuerlichen Gefühl. Der Kaffee, den ich gehalten hatte, musste irgendwo auf dem Weg weggeworfen worden sein, aber der bittere Geschmack blieb auf meiner Zunge.
Tränen begannen lautlos über mein Gesicht zu strömen, heiße Spuren auf meiner eisigen Haut. Ich hatte nicht die Energie, sie wegzuwischen. Sie fielen einfach, tropften von meinem Kinn auf meine Jeans und hinterließen dunkle kleine Flecken im Stoff.
Das Klicken des Türknaufs ließ meinen ganzen Körper erstarren.
Das Geräusch seiner teuren Lederschuhe hallte auf dem Boden wider und kam näher.
Er kniete sich neben mich, seine Bewegungen langsam und sanft. „Julia? Schatz, was machst du auf dem Boden?“
Seine Stimme war ein Meisterwerk gespielter Sorge.
„Ist dir kalt? Du bist durchnässt.“ Ich spürte seine Hand auf meiner Schulter, warm und schwer. Alina musste ihn angerufen haben. Sie war früher von der Arbeit gegangen, sagte, sie fühle sich krank.
„Fühlst du dich nicht gut?“, fragte er, sein Daumen strich über meinen Arm, auf diese beruhigende Weise, von der er wusste, dass sie mich immer beruhigte.
Ich konnte die Wärme seines Körpers spüren, als er näher rückte, sein vertrauter Duft von Sandelholz und frischer Wäsche füllte meine Sinne. Er strich eine verirrte, feuchte Haarsträhne aus meinem Gesicht.
Seine Augen, die Farbe von warmem Whiskey, in denen ich mich früher verloren hatte, waren mit einer sorgfältig konstruierten Sorge gefüllt. „Julia, was ist los? Sprich mit mir.“
Er war so nah, dass ich die winzigen Goldflecken in seiner Iris sehen konnte. Er nahm mein Gesicht in seine Hände, seine Berührung war zärtlich.
„Du musst vorsichtig sein“, flüsterte er, seine Stimme weich wie Samt. „Besonders jetzt.“
Ich starrte in seine Augen, und zum ersten Mal sah ich alles mit erschreckender Klarheit.
Der Betrug war nichts Neues. Er war das Fundament unserer Beziehung.
Vor fünf Jahren hatte ein erfundener Skandal meine aufkeimende Karriere fast zerstört, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ein rivalisierender Musiker, verzweifelt auf der Suche nach einem Plattenvertrag, hatte mich fälschlicherweise des Plagiats beschuldigt. Der Medienrummel war unerbittlich. Meine ruhige, introvertierte Art wurde als Schuldeingeständnis verdreht.
Meine Familie sah, anstatt mich zu schützen, eine Gelegenheit. Sie drängten mich, mich zurückzuziehen, im Hintergrund zu verschwinden, „zum Wohle des Familiennamens“. Sie sagten, Laura, charmant und kameratauglich, sei besser für die Öffentlichkeit geeignet.
Es war Jakob, mein Produzent und damaliger Freund, der die Lösung präsentiert hatte. Er hatte der Welt verkündet, dass die Songs eine Gemeinschaftsarbeit seien, dass ich die schüchterne Komponistin und er das Gesicht unserer Partnerschaft sei. Er rettete meinen Ruf, aber zu einem Preis: Ich wurde zur Ghostwriterin in meinem eigenen Leben.
Dann kam der öffentliche Heiratsantrag, eine große, romantische Geste bei einer Branchenpreisverleihung, die unser Image als Power-Paar zementierte. Es fühlte sich wie Erlösung an. Ich glaubte, er sei mein Retter, der Einzige, der meinen wahren Wert sah.
Ich dachte, er würde meine Welt wieder aufbauen. In Wirklichkeit baute er nur einen aufwendigeren Käfig.
In den folgenden Jahren steckte ich jede Unze meines Talents in seine Produktionsfirma. Ich schrieb, ich komponierte, ich arrangierte. Meine Musik, gefiltert durch seinen Namen und seine Marke, machte ihn zu einem aufsteigenden Stern in der Branche. Seine Firma wuchs von einem kleinen Indie-Label zu einem Major-Player, der neue Künstler unter Vertrag nahm und Auszeichnungen gewann.
Wir waren ein Team. Das glaubte ich. Wir kauften diese wunderschöne Wohnung mit Blick über die Stadt. Wir sprachen über eine Zukunft, über Kinder, darüber, gemeinsam alt zu werden.
Ich dachte, wir hätten das perfekte Leben.
Jetzt, als ich ihn ansah, wusste ich es. Ich war nur das wertvollste Gut, das er besaß.
Er zog mich in eine Umarmung, seine Arme schlangen sich um meine zitternden Schultern. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf.
„Was auch immer es ist, wir schaffen das“, murmelte er in mein Haar. „Wir haben so viel, worauf wir uns freuen können. Bald werden wir nicht mehr nur zu zweit sein. Wir müssen an das Baby denken.“
Sein Lächeln, das, das meine Knie früher weich werden ließ, war eine perfekte, wunderschöne Lüge.