Ein Leben voller zerbrechlicher Gesundheit hatte Deanna wehrlos gegen den Schock zurückgelassen. Die Nachricht riss ihr den Boden unter den Füßen weg, und alles um sie wurde schwarz.
Als ihr Bewusstsein endlich zurückkehrte, war es bereits zu spät für einen letzten Abschied. Jayden war längst beerdigt worden, und sie hatte ihre letzte Chance verpasst, ihn noch einmal zu sehen.
Bisher wusste sie noch nicht, wo sein Grab lag.
Also erhob sich Deanna von ihrem Platz und ging auf das Zimmer von Jaydens Mutter Vickie Spencer zu, um sie nach dem Ort zu fragen.
Doch je näher sie der Tür kam, desto deutlicher drangen Stimmen an ihr Ohr und ließen sie wie angewurzelt stehen. Was sie hörte, jagte ihr eine eisige Kälte durch den Körper.
„Jayden, weißt du überhaupt, was du tust? Dein Bruder Brody ist derjenige, der gestorben ist, nicht du. Warum hast du Deanna glauben lassen, du wärst in dem Absturz ums Leben gekommen? Was, wenn ihr Bruder eins und eins zusammenzählt?“
Die Luft schien aus dem Flur zu verschwinden. Deannas Herz raste, während ihre Gedanken haltlos durcheinander wirbelten.
Sie biss sich fest in die Unterlippe, als wollte sie sich damit an die Wirklichkeit klammern. Der stechende Schmerz riss sie zurück, gerade schmerzhaft genug, um die furchtbare Wahrheit zu begreifen.
War Jayden am Leben und gab sich die ganze Zeit als Brody aus? Hatte die ganze Familie bei dieser grausamen Täuschung mitgespielt?
Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie nie eine echte Chance gehabt hatte, die beiden auseinanderzuhalten, nicht bei ihren identischen Gesichtern und Jaydens sorgfältiger Tarnung.
Flache und ungleichmäßige Atemzüge entrangen sich Deanna, während sie sich verzweifelt an die Hoffnung klammerte, dass sie jedes Wort falsch verstanden hatte. Sicherlich konnte Jayden, der einst geschworen hatte, ihr niemals wehzutun, ihr Vertrauen nicht auf so grausame Weise verraten.
Doch dann zerschmetterte die vertraute Stimme ihre letzte Hoffnung: „Alles andere ist mir egal. Ich will nur Talia.“
Ihre ganze Welt geriet ins Wanken. Talia Spencer war Brodys Ehefrau und Jaydens eigene Schwägerin.
Deanna konnte die Wahrheit kaum begreifen. Der Mann, den sie drei Jahre lang geliebt hatte, hatte sein Herz einer Frau geschenkt, die für ihn tabu sein sollte.
Jaydens Worte wollten nicht verstummen und hallten in ihrem Kopf wider, bis sie glaubte, den Verstand zu verlieren. „Mama, du wusstest schon immer, dass Talia die Einzige ist, die mir je etwas bedeutet hat. Wenn sie nicht so auf Brody fixiert gewesen wäre, glaubst du wirklich, ich hätte mich mit Deanna zufriedengegeben? Ich habe diese Ehe drei Jahre lang vorgetäuscht und jeder Tag war eine Qual. Jetzt da Brody weg ist, erwartest du, dass ich Talia allein in dieser Welt zurücklasse? Sie ist viel zu zerbrechlich, um das alles allein durchzustehen. Und was Jorge betrifft, mach dir keine Sorgen. Er wird die Wahrheit niemals erfahren.“
Jeder Satz stach in Deannas Seele, jedes Wort drehte das Messer tiefer, bis nichts als Schmerz blieb.
Drei Jahre Liebe und Hingabe hatten sich als grausame Lüge entpuppt.
Ihr Körper zitterte, während Tränen lautlos über ihre Wangen liefen und sie den Herzschmerz kaum aushalten konnte.
Vor sieben Jahren war Deannas Welt zusammengebrochen, als sie beide Eltern verlor. Sie und ihr Adoptivbruder Jorge Evans kamen unter die Obhut ihres Onkels Richard Evans. In den ersten Tagen klammerte sie sich an die Hoffnung, friedlich an Jorges Seite aufzuwachsen, ohne zu ahnen, welche Dunkelheit sie in Richards Haus erwartete.
Hinter Richards sanfter Fassade lauerte ein Monster. Er trieb Jorge fort, riss sich das Vermögen ihrer Eltern unter den Nagel und setzte Deanna ununterbrochener Gewalt aus. Um sie vollständig zu kontrollieren, begann er sogar, ihr ein langsam wirkendes Gift zu verabreichen.
Egal wie oft Jorge versuchte, sie zu retten, Richard erwischte sie immer wieder. Jeder Versuch endete für Deanna in noch grausamerer Bestrafung.
Angst wurde zu einem festen Teil ihres Alltags. Sie lernte, sich lautlos zu bewegen und wie ein Schatten durch das Anwesen der Evans zu schleichen. Wenn Richard nicht hinsah, vergrub sie sich in medizinischen Lehrbüchern, verzweifelt auf der Suche nach einem Gegengift. Doch die Toxine waren komplex, und mit jedem Tag gab ihr Körper ein Stück mehr nach.
Da Deanna keinen Ausweg sah, spielte sie ihre Rolle und verhielt sich als eine dankbare Nichte, während Richard sich als fürsorglicher Vormund inszenierte.
Es schien kein Ende zu geben, vor ihr nur eine Zukunft, verschlungen von Richards Intrigen.
Dann trat eines Tages die Familie Spencer mit einem Heiratsvorschlag an sie heran, und plötzlich erschien ein schmaler Hoffnungsschimmer.
Ohne anderen Ausweg klammerte sich Deanna an die Chance, in die Familie Spencer einzuheiraten, denn darin sah sie ihre einzige Möglichkeit, Richards Grausamkeit zu entkommen.
Da die Familie Spencer der Familie Evans seit Jahren einen Gefallen schuldete, war der Ehevertrag längst festgelegt worden und Richards Einwände verpufften wirkungslos.
Ursprünglich sollte Brody ihr Ehemann werden.
Doch alles änderte sich an dem Tag, als Jayden sie zum ersten Mal sah. Von diesem Moment an machte er seine Gefühle unmissverständlich deutlich und verfolgte sie mit unerschütterlicher Entschlossenheit. Seine kühnen Gesten stellten die Pläne der Familie völlig auf den Kopf. Er stürmte sogar die Verlobungsfeier, die eigentlich ihr und Brody galt, und entführte sie, bevor irgendjemand eingreifen konnte.
Jayden zahlte einen hohen Preis für seinen Ungehorsam gegenüber der Familie. Drei Monate lang wurde er eingesperrt und musste die Konsequenzen dafür tragen, dass er sie den Erwartungen seiner Angehörigen vorzog.
Diese Opfer überzeugten Deanna von seiner Liebe. Als die Familie Spencer vorschlug, den Bräutigam zu tauschen, sagte sie ohne Zögern zu.
Drei Jahre lang wirkte ihre Ehe wie ein Märchen. Jayden behandelte sie mit Wärme und Hingabe, und gemeinsam schienen sie das perfekte Bild ehelichen Glücks zu verkörpern.
Deanna war überzeugt gewesen, dass all das echt war. Diese Illusion zerbrach in dem Moment, als sie Jayden die Wahrheit gestehen hörte.
Erst jetzt erkannte sie ihre Ehe als eine sorgfältig inszenierte Vorstellung, während jede Geste von Jayden darauf ausgerichtet war, Talia anstatt ihr zu gefallen. Die Liebe zwischen ihnen, von der sie sich überzeugt hatte, war nichts weiter als eine wunderschöne Lüge, und diese Wahrheit anzuerkennen traf sie fast tödlich.
Wie angewurzelt blieb Deanna stehen, ihre Beine weigerten sich, auch nur den kleinsten Befehl auszuführen, egal wie verzweifelt sie sich zum Weitergehen drängte.
Das Gift, das Richard ihr über die Jahre eingeflößt hatte, meldete sich genau in diesem Moment zurück. Schmerz brandete in Wellen durch ihren Körper, trieb kalten Schweiß auf ihre Haut und ließ sie unkontrolliert zittern.
Hinter der Tür durchschnitt Vickies Stimme den Nebel: „Wir sollten Deanna einfach einen neuen Ehemann besorgen. Dann bleibt unser Geheimnis geschützt.“
Jayden antwortete in einem gleichgültigen Tonfall: „Sie hängt viel zu sehr an mir, um dem jemals zuzustimmen. Vergiss es, Mama. Ich kümmere mich selbst darum.“
Als Deanna das hörte, überkam sie ein bitterer Sinn für Ironie.
Also war ihre Liebe zu Jayden für ihn Grund genug, ihr Herz ohne Verzögerung mit Füßen zu treten?
Was war das für eine verdrehte Logik?
Eine plötzliche Welle der Übelkeit zwang sie, sich nach vorn zu krümmen, und sie würgte unkontrolliert.
Das Gespräch hinter der Tür verstummte augenblicklich, während eine Welle aus Angst in ihr hochkroch, als die Erkenntnis sie traf, dass man sie ertappt hatte.
Mit letzter Kraft schleppte Deanna sich in ihr Zimmer zurück. Drinnen schloss sie die Tür und starrte auf das Gedenkfoto, das sie erst kürzlich so sorgfältig poliert hatte, nun verspottete es sie von seinem Platz auf dem Schreibtisch.
In einem Ausbruch von Wut schleuderte sie den Rahmen zu Boden. Das Glas zerbarst und verteilte sich in scharfen Splittern über den ganzen Raum.
Blut trat aus ihrer Hand hervor, wo die Scherben tief in die Haut geschnitten hatten, und vermischte sich mit dem unerbittlichen Brennen des Gifts unter ihrer Haut.
Ihr Blick wanderte zur Decke, während ihr Geist jene Szene von vor ein paar Tagen wiederholte, als Jayden voller Eifer in Talias Zimmer verschwunden war. Seine rohe Erregung war durch die Wand hindurch beinahe ohrenbetäubend gewesen.
Damals hatte sie es für ungestüme Leidenschaft zwischen Ehemann und Ehefrau gehalten. Jetzt erkannte sie, dass die an ihrem Ohr hallende Ekstase einzig aus dem Reiz des Verbotenen stammte.
Schon der Gedanke daran drehte ihr den Magen um.
Jeder Teil ihrer Ehe oder jede Geste von Jayden fühlte sich plötzlich beschmutzt und erdrückend an.
Nachgeben hatte nie zu Deannas Wesen gehört, und dieser Verrat war mehr, als sie ertragen konnte. Sie würde Jayden nicht damit durchkommen lassen, sie so zu erniedrigen.
Er würde die Konsequenzen tragen und alles sollte ans Licht kommen, was er getan hatte.
Ihr Atem ging kurz und ungleichmäßig, die Hände zitterten unkontrolliert, während Wut und Schmerz ineinander übergingen.
Keine drei Minuten vergingen, da klopfte es heftig an der Tür.
Noch bevor Deanna sich sammeln konnte, wurde sie mit Kraft aufgestoßen.
Jayden füllte den Türrahmen aus, während sein Blick scharf und durchdringend funkelte. „Deanna, wo bist du vorhin gewesen?“, fragte er.