Ein ganz normales Treffen des Rudels. Plötzlich hatte eine Dienerin eine Pistole auf ihn gerichtet. Niemand sonst hatte es bemerkt.
„Alpha Alistair lässt grüßen", hatte die Attentäterin gesagt.
Bevor ich begriff, was ich tat, war ich losgerannt, hatte mich vor ihn geworfen – und jetzt lag ich hier.
Ich drehte den Kopf zur Seite, suchte ihn.
Mein Mann, mein Gefährte, meine einzige große Liebe – Tristan – zerrte gerade Alyn, meine Schwester, vom Tatort weg. Sie wehrte sich, wollte zu mir, doch er hielt sie fest. Nicht ein einziges Mal hatte er hergeschaut.
Ich hatte mich für ihn geopfert, und er brachte es nicht einmal fertig, mich anzusehen. Seine Augen – genau wie sein Herz und seine ganze Aufmerksamkeit – gehörten allein meiner Schwester.
Eine Träne lief mir über die Wange, während mein Bauch sich warm und klebrig anfühlte. Unser Baby. Weg.
Ich war bereits im fünften Monat gewesen, auch wenn man nichts sah – ein einziges betrunkene Nacht, die uns geschenkt worden war. Niemand hatte es gewusst, er schon gar nicht. Ich hatte vorgehabt, es ihm bald zu sagen. Jetzt würde das nie mehr geschehen.
Man trug mich fort. Kurz darauf lag ich in einem kalten Raum, und der Rudelarzt beugte sich über mich.
„Es tut uns leid, Alpha", sagte er leise, „die Verletzung ist zu tief, sie hat bereits zu viel Blut verloren. In diesem Stadium können wir nichts mehr für sie tun."
Ich hatte genau diese Worte erwartet, und dennoch trafen sie mich wie ein zweiter Schuss.
Es war offiziell. Ich würde sterben.
Was danach gesprochen wurde, hörte ich schon nicht mehr. Der Arzt verließ den Raum. Ich wollte nach Tristan rufen, doch auch er war gegangen – und hatte Alyn allein bei mir zurückgelassen. Sie setzte sich an mein Bett.
Sekunden verstrichen. Nur mein keuchender Atem war zu hören. Ich spürte ihre Nähe, aber sie sagte nichts.
Bis sie es doch tat.
„Jetzt, wo du ohnehin im Sterben liegst – soll ich dir ein Geheimnis verraten, Schwesterherz?", flüsterte sie.
Verwirrung durchdrang meine benebelten Sinne. Mit letzter Kraft zwang ich die Augen auf – und erschauderte.
Sie lächelte.
„Die Wahrheit ist: Ich bin froh, dass du stirbst."
Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken.
„Von dem Moment an, als ich in dieses Rudel und in diese Familie gekommen bin, konnte ich dich nicht ausstehen. Nicht die Aufmerksamkeit, die du bekommen hast. Nicht die Privilegien. Also habe ich dafür gesorgt, dass ich dir alles wegnehme."
Entsetzen packte mich. Ich verstand sofort, was sie meinte.
Früher war ich das einzige Kind des Beta-Paares gewesen – bis meine Eltern eines Tages dieses kleine Mädchen gefunden und mit nach Hause gebracht hatten. Ich hatte sie bereitwillig als Schwester aufgenommen, sie geliebt, beschützt. Und dann hatte sich alles verdreht.
Plötzlich hatten meine Eltern nur noch Augen für sie. Das ganze Rudel schien sie mehr zu mögen als mich. Ich hatte protestiert, gekämpft – doch egal, was ich tat, ich war immer nur zweite Wahl. Sogar für meinen eigenen Gefährten.
Sie lachte. Dieses Lachen, das alle Welt mit einer Göttin verglichen hatte, klang jetzt wie der Teufel persönlich.
„Jetzt kannst du ohnehin nichts mehr dagegen tun, also beichte ich dir alles", sagte sie fröhlich.
Und das tat sie. Ich lag da, hilflos, bewegungsunfähig, und konnte nichts anderes tun, als jedes einzelne Wort aufzusaugen. Jede Intrige, jede Heuchelei, jede noch so kleine Lüge. Wie sie sich jahrelang als unschuldiges Opfer inszeniert und mich gleichzeitig systematisch schlechtgemacht hatte. Es hatte schon begonnen, als wir noch Kinder waren.
Ich war entsetzt. All die Jahre hatte ich mich gezwungen, sie nicht zu hassen – hatte gedacht, es läge an meinem Pech, an meinem Versagen. Dabei hatte sie von Anfang an alles geplant ...
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging – Minuten? Stunden? –, bis sie schließlich mit einem übertriebenen Seufzen endete.
„Du brauchst dir um die Familie oder das Rudel keine Sorgen mehr zu machen. Die haben sich ohnehin nie sonderlich für dich interessiert. Schon bald werden sie dich und dein Opfer vergessen haben, und ich werde deinen Platz einnehmen. Bei Tristan ist es dasselbe." Sie kicherte, als hätte sie einen besonders guten Witz gemacht.
„Hast du gesehen, wie er vorhin reagiert hat? Obwohl du nur seinetwegen hier liegst, interessiert ihn nur mein Wohlergehen. Du mochtest zwar seine Gefährtin sein – aber ich bin die, die er wirklich liebt. Er ist nicht einmal hier, um dich sterben zu sehen. Keine Sorge, ich werde mich schon um ihn kümmern ... als neue Luna."
„Wer weiß", summte sie genüsslich, „vielleicht nenne ich unser erstes Kind ja sogar nach dir – als Trophäe. Die anderen werden denken, wie rührend und sentimental ich doch bin. Aber nur ich werde die Wahrheit kennen. Dass nämlich ich gewonnen habe."
Am liebsten wäre ich hochgefahren, hätte geschrien, sie geschlagen – doch ich war bereits zu schwach. Das Leben floss aus mir heraus, jede Sekunde wurde der Faden dünner, an dem ich noch hing.
Trauer und bittere Resignation erfüllten mich. All meine Liebe, all meine Mühe, all meine Opfer – wofür?
Für einen Mann, der mich nie geliebt hatte. Der mich bei jeder Gelegenheit abgelehnt und verachtet hatte. Für eine Schwester, die mich von Anfang an verraten und gezielt zugrunde gerichtet hatte. Für Eltern, die mich schon lange nicht mehr beachtet hatten. Für ein Rudel, das meine Bemühungen nie geschätzt und mich immer nur herabgewürdigt hatte.
Mein Kind und ich starben – und nicht eine der Personen, die ich liebte, war bei mir. Niemand kümmerte sich.
Meine letzten Augenblicke wurden einzig und allein von Alyn und ihrer kalten, bösartigen Wahrheit begleitet.
Noch eine Träne lief mir über die Wange, dann spürte ich auch das nicht mehr.
Wenn ich doch nur noch einmal von vorn beginnen könnte ...
„Leb wohl, Valerie." Alyns Stimme hallte wie aus weiter Ferne. Das Atmen fiel mir immer schwerer, die Kälte fraß sich in jede Faser meines Körpers. Ich holte ein letztes, zitterndes Mal Luft und ...
...
Es fühlte sich an, als schwämme ich eine Ewigkeit lang durch pure Dunkelheit, als plötzlich ein schriller Ton die friedliche Stille zerriss. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, doch dann kitzelte etwas an meiner Wange. Langsam öffneten sich meine Augen – grelles Licht blendete mich.
War das etwa ... der Himmel?
„Luna, aufwachen!" Ich blinzelte und erkannte Mina, die sich über mich beugte.
„Was ...?", keuchte ich völlig verwirrt.
Sie lächelte. „Sind Sie noch müde, Luna? Leider bleibt keine Zeit – und die Göttin weiß, dass Sie das niemals erlauben würden, wenn Sie richtig wach wären."
Mein Herz raste. Ich setzte mich ruckartig auf und sah mich um.
Das war mein Bett. Mein Zimmer.
„Wie ...", flüsterte ich und brach ab.
„Geht es Ihnen gut, Luna?" Mina sah mich besorgt an.
Aus purem Reflex riss ich mich zusammen und verbarg mein Entsetzen.
„J-Ja", stammelte ich, „ich brauche nur ... einen Moment."
„Natürlich." Sie lächelte noch einmal und verließ den Raum.
Erst als die Tür ins Schloss fiel, stand ich auf.
War das ein Traum? Ich kniff mich fest in den Arm – und schrie fast auf vor Schmerz. Alles fühlte sich absolut echt an.
Ich war gestorben. Wie konnte ich dann hier sein?
Instinktiv griff ich nach meinem Handy und schaute auf das Datum.
30th April.
Das ergab keinen Sinn. Das war Monate her – lange bevor ich ...
Mir stockte der Atem. Mein letzter Gedanke ...
Wenn ich doch nur alles noch einmal machen könnte ...
Ich kniff mich noch einmal, nur um ganz sicher zu sein.
Etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte. Etwas, das nur in alten Märchen und Kindergeschichten vorkam.
Ich war wiedergeboren!
Das hier war fast drei Monate vor jenem verhängnisvollen Tag, etwa eine Woche vor dem Jahrestag unserer Paarungszeremonie. Ich war bereits seit einem Jahr Luna gewesen und hatte mich so sehr auf diese Feier gefreut – eine Gelegenheit, endlich einmal etwas richtig zu machen, ohne Kritik zu ernten. Stattdessen war die ganze Veranstaltung von Gerüchten überschattet gewesen. Ich erinnerte mich an die bohrenden Blicke, die Demütigungen, das Getuschel – unter anderem darüber, dass ich „unfruchtbar" sei.
„Moment mal ..."
Ich keuchte auf und presste beide Hände auf meinen flachen Bauch. Wenn ich wirklich zurückgekehrt war, dann war auch mein Baby wieder da.
Tränen schossen mir in die Augen. Auch wenn äußerlich noch nichts zu sehen war – wie in all den Monaten meiner verborgenen Schwangerschaft –, ich spürte es. Es war wieder da.
Was sollte ich jetzt tun?
Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, knallte die Tür mit einem lauten Krachen auf.
Keine andere als mein Gefährte und Ehemann, Tristan, stürmte herein.